Begutachtungs- Leitlinien zur Kraftfahrereignung
3.10 Psychische Störungen
Unter psychischen Störungen werden im Folgenden alle geistig-seelischen Störungen verstanden.
3.10.1 Organisch-psychische Störungen
Leitsätze
Wer unter einer der folgenden organischen Psychosen akut leidet:- Delir (Verwirrtheitszustand),
- amnestisches Syndrom (Korsakow Syndrom),
- Dämmerzustand,
- organische Psychose mit paranoider, manischer oder depressiver Symptomatik
ist nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden.
Nach Abklingen einer organischen Psychose ist die Fähigkeit zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen im Wesentlichen von Art und Prognose des Grundleidens abhängig. Wenn das Grundleiden eine positive Beurteilung zulässt, kann diese Fähigkeit wieder angenommen werden, wenn keine Restsymptome der Psychose mehr nachweisbar sind und kein relevantes chronischhirnorganisches Psychosyndrom vorliegt (siehe Kapitel 3.10.2 Demenz und organische Persönlichkeitsveränderungen).
In der Regel - bei organischer Psychose unklarer Ursache in jedem Fall - sind Nachuntersuchungen in bestimmten vom Gutachter festzulegenden Abständen erforderlich.
Nach einmaligem schädigenden Ereignis und kurzer Krankheitsdauer kann von einer Nachuntersuchung abgesehen werden.
Begründung
In Abhängigkeit vom Grundleiden kann die Gefahr einer Wiedererkrankung bestehen. Nach einmaliger Schädigung kommt es für die Beurteilung darauf an, ob die Schädigung Resterscheinungen, d. h. Beeinträchtigungen der hirnorganischen Leistungsfähigkeit, hinterließ.
3.10.2 Demenz und organische Persönlichkeitsveränderungen
Leitsätze
Die Beurteilung, ob die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 vorliegen, muss von der Art und Schwere eines hirnorganischen Psychosyndroms bzw. einer hirnorganischen Wesensänderung abhängig gemacht werden. So kann eine leichte hirnorganische Wesensänderung die Voraussetzungen für die Fahrerlaubnisgruppe 1 unter Umständen unberührt lassen. Schwere Störungen schließen jedoch die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen auch dieser Gruppe aus.Den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 können Betroffene mit einer Demenz und/oder organischem Psychosyndrom in der Regel - d. h. von seltenen Ausnahmen abgesehen -nicht gerecht werden.
Solche Ausnahmen können nur bei geringfügigen Einschränkungen der psychischen Leistungsfähigkeit und/oder bei sehr leichten, ihrer Art nach für das Führen eines Kraftfahrzeuges der Gruppe 2 bedeutungslosen Wesensänderungen als gerechtfertigt angesehen werden.
Im Einzelfall ist für Gruppe 1 und Gruppe 2 durch einen Facharzt für Psychiatrie und nach dessen Empfehlung evtl. durch eine neuropsychologische Zusatzuntersuchung zu prüfen, ob und in welchem Grade die geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt sind.
Nachuntersuchungen sind (auch bei positiver Beurteilung) im Hinblick auf eine mögliche Verschlechterung vorzusehen, außer der Zustand ist erwiesenermaßen stabil (z. B. leichte posttraumatisch bedingte psychische Störungen).
Begründung
Schwere Ausprägungsgrade nannte man bisher Demenz, heute werden alle hirnorganischen Psychosyndrome so genannt. Früher unterschied man zwischen organischer Leistungsminderung und organischer Wesensänderung (Persönlichkeitsveränderung), jedoch ist eine scharfe Grenzziehung nicht möglich und auch nicht relevant für die Beurteilung der Leistungen beim Führen eines Kraftfahrzeugs. Die Schweregrade und Ausprägungen einzelner Symptome sind sehr unterschiedlich. Meist ist der Verlauf chronisch, zum Teil fortschreitend, zum Teil auch reversibel.
Es gibt leichte hirnorganische Psychosyndrome, die sich auf die Leistungen beim Führen eines Kraftfahrzeuges (und auch im Übrigen auf die Lebensbewältigung) kaum auswirken. Schwere organische Psychosyndrome schließen jedoch die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen aus.
3.10.3 Altersdemenz und Persönlichkeitsveränderungen durch pathologische Alterungsprozesse
Leitsätze
Wer unter einer ausgeprägten senilen oder präsenilen Demenz oder unter einer schweren altersbedingten Persönlichkeitsveränderung leidet, ist nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden.Begründung
Die Beurteilung eines älteren Fahrerlaubnisinhabers oder Fahrerlaubnisbewerbers muss allerdings berücksichtigen, dass gewisse Leistungsminderungen bei allen Menschen im höheren Lebensalter zu erwarten sind. Es müssen also ausgeprägte Leistungsmängel und schwere Persönlichkeitsveränderungen im Einzelfall nachgewiesen werden. Dabei kann die Beurteilung der Befunde in Grenzfällen bei älteren Fahrerlaubnisinhabern anders erfolgen als bei älteren Fahrerlaubnisbewerbern. So kann bei älteren Fahrerlaubnisinhabern - wenn sie die Fahrerlaubnis schon in jüngeren Jahren erworben haben - damit gerechnet werden, dass Verkehrserfahrungen und gewohnheitsmäßig geprägte Bedienungshandlungen (Automationen) zur Beherrschung des Fahrzeugs geringere Leistungsdefizite ausgleichen. In Zweifelsfällen kann eine praktische Fahrprobe bei älteren Fahrerlaubnisinhabern zur Klärung der Sachlage beitragen.
3.10.4 Affektive Psychosen
Leitsätze
Gruppe 1
Bei jeder sehr schweren Depression, die z. B. mit
- depressiv-wahnhaften,
- depressiv-stuporösen Symptomen oder mit
- akuter Suizidalität
- depressiv-stuporösen Symptomen oder mit
- akuter Suizidalität
einhergeht, und bei allen manischen Phasen sind die für das Kraftfahren notwendigen psychischen Fähigkeiten so erheblich herabgesetzt, dass ein ernsthaftes Risiko des verkehrswidrigen Verhaltens besteht. Nach Abklingen der manischen Phase und wenn die relevanten Symptome einer sehr schweren Depression nicht mehr vorhanden sind und - ggf. unter regelmäßig kontrollierter medikamentöser Prävention - mit ihrem Wiederauftreten nicht mehr gerechnet werden muss, ist in der Regel von einem angepassten Verhalten bei Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Kraftfahrzeug auszugehen. Auswirkungen der antidepressiven Pharmakotherapie sind zu berücksichtigen, insbesondere in den ersten Tagen nach rascher Dosissteigerung.
Wenn mehrere manische oder sehr schwere depressive Phasen mit kurzen Intervallen eingetreten waren und deshalb der weitere Verlauf nicht absehbar ist (besonders wenn keine Phasenprophylaxe erfolgt), ist nicht von einem angepassten Verhalten bei Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Kraftfahrzeug auszugehen, auch wenn z. Zt. keine Störungen nachweisbar sind.
Ein angepasstes Verhalten kann nur dann wieder angenommen werden, wenn - ggf. durch eine medikamentöse Prävention - die Krankheitsaktivität geringer geworden ist und mit einer Verlaufsform in der vorangegangenen Schwere nicht mehr gerechnet werden muss. Dies muss durch regelmäßige psychiatrische Kontrollen belegbar sein.
Die Begutachtungen können nur durch einen Facharzt für Psychiatrie erfolgen.
Gruppe 2
Für Fahrer der Gruppe 2 ist Symptomfreiheit zu fordern. Nach mehreren depressiven oder manischen Phasen ist in der Regel nicht von einem angepassten Verhalten bei Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Kraftfahrzeug auszugehen.
Begründung
Affektive Psychosen verlaufen in abgesetzten, depressiven (melancholischen) oder/und manischen Phasen, in denen emotionale Funktionen, nicht aber Intelligenzfunktionen gestört sind. Hierdurch wird im Falle depressiver Erkrankungen die Anpassungs- und Leistungsfähigkeit beim Führen eines Kraftfahrzeuges nicht beeinträchtigt, außer in den oben genannten sehr schweren depressiven Phasen. In manischen Phasen ist jedoch auch bei geringer Symptomausprägung mit Beeinträchtigungen der Anpassungs- und Leistungsfähigkeit zu rechnen.
Krankheitsbild und Verlauf der affektiven Psychosen wurden in den letzten Jahren durch Fortschritte der Therapie und Prävention verändert. Durch die antidepressive Behandlung, insbesondere mit antidepressiven Pharmaka, wird die depressive (melancholische) Symptomatik wesentlich reduziert, und zum Teil wird die Zeitdauer der Phase abgekürzt. Zudem können durch eine medikamentöse Prävention (prophylaktische Langzeitbehandlung mit Lithium-Salzen oder Carbamazepin) Wiedererkrankungen depressiver und manischer Art in der Mehrzahl verhindert werden. Bei dieser Prophylaxe werden regelmäßig (zumindest vierteljährliche) psychiatrische Beratungen (einschließlich Blutspiegelbestimmungen) durchgeführt. Hierdurch werden auch die Möglichkeiten der Frühdiagnose eventueller Wiedererkrankungen wesentlich verbessert, was im Hinblick auf die sozialen Belange und auch ggf. auf die Kontrolle bei Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr nützlich ist.
3.10.5 Schizophrene Psychosen
Leitsätze
Die Voraussetzung zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen ist in akuten Stadien schizophrener Episoden nicht gegeben.Gruppe 1
Nach abgelaufener akuter Psychose kann die Voraussetzung zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 in der Regel wieder gegeben sein, wenn keine Störungen (z. B. Wahn, Halluzination, schwere kognitive Störung) mehr nachweisbar sind, die das Realitätsurteil erheblich beeinträchtigen. Bei der Behandlung mit Psychopharmaka sind einerseits deren stabilisierende Wirkung, andererseits die mögliche Beeinträchtigung psychischer Funktionen zu beachten. Langzeitbehandlung schließt die positive Beurteilung nicht aus (siehe Kapitel 3.12 Betäubungsmittel und Arzneimittel); in manchen Fällen ist die Langzeitbehandlung hierfürdie Voraussetzung, wobei diese Behandlung durch Bescheinigungen des behandelnden Facharztes für Psychiatrie dokumentiert werden sollte.
Wenn mehrere psychotische Episoden aufgetreten sind (sog. wellenförmiger Verlauf), sind im Hinblick auf mögliche Wiedererkrankungen die Untersuchungen durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in festzulegenden Abständen zu wiederholen.
Gruppe 2
Begründung
Im Verlauf treten akute Erkrankungen auf, auch wiederholt. Diese psychotischen Episoden können entweder ausheilen oder in Teilremissionen (sog. soziale Remissionen) bzw. in Residualzustände (Persönlichkeitsveränderungen) übergehen.
Schwere psychotische Krankheitserscheinungen können das Realitätsurteil eines Menschen in so erheblichem Ausmaß beeinträchtigen, dass selbst die Einschätzung normaler Verkehrssituationen gestört wird. Schwere psychotische Körpermissempfindungen können die Aufmerksamkeit absorbieren und die Leistungsfähigkeit senken. Antriebsund Konzentrationsstörungen können den situationsgerechten Einsatz der psycho-physischen Leistungsfähigkeit mindern. Derartige psychotische Krankheitserscheinungen können also zu Fehlleistungen führen und die allgemeine Leistungsfähigkeit unter das notwendige Maß herabsetzen. In jedem Einzelfall muss - auch abhängig vom Krankheitsstadium - die Bedeutung aller einzelnen Symptome für die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beurteilt werden.
Quelle: http://www.fahrerlaubnisrecht.de/Begutachtungsleitlinien/BGLL 3.10.htm