Geheimnis des Blackouts

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Nancy

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Forscher entschlüsseln Geheimnis des Blackouts

Die Party war gut, Alkohol gab es reichlich – aber wie bin ich nach Hause gekommen? Forscher sind dem Phänomen des Blackouts auf den Grund gegangen.


Als Steve Güldenpfennig nach einer langen Partynacht in seinem Bett aufwacht, scheint zunächst alles normal zu sein. Bis seine Mutter in der Tür erscheint und vorwurfsvoll fragt, was in der vergangenen Nacht eigentlich geschehen sei.
Steve denkt nach – und kann sich an nichts erinnern. "Ich habe wirklich keine Ahnung mehr, was da passiert ist", sagt er. "Ich war mit Freunden was trinken, Longdrinks und Bier. Aber ich kann mich nur noch daran erinnern, wie ich wieder aus der Bar rausging. Danach ist Schluss."
Steves Mutter fand ihn, als sie morgens aufstand. Selig schlief er auf dem Boden im Flur, auf dem Bauch liegend, seinen Schlüsselbund auf dem Rücken. Jemand hatte ihn nach Hause gebracht, die Wohnungstür aufgeschlossen, und den damals 18-Jährigen samt Schlüssel dort hingelegt. Seine Mutter brachte ihn schließlich mühsam ins Bett. Doch auch davon weiß er nichts mehr – Steve hat ein komplettes Blackout.
Dass übermäßiger Alkoholkonsum die Gedächtnisleistung stark beeinflusst, ist Wissenschaftlern schon lange klar. Die ersten Untersuchungen dazu führte der Physiologe und Biostatistiker Elvin Morton Jellinek in den 40er-Jahren mit Mitgliedern der Anonymen Alkoholiker durch.


1969 wurde dann mit der Studie um Donald Goodwin vom Medical Center der University of Kansas eine Unterteilung des Phänomens vorgenommen. Durch Interviews mit 64 Alkoholikern konnten die Wissenschaftler zwei verschiedene Arten des Blackouts definieren.
Bei den sogenannten "En bloc"-Blackouts ist ab einem ganz bestimmten Zeitpunkt jede Erinnerung an Ereignisse und Personen komplett verschwunden – so wie bei Steve Güldenpfennig, bei dem der Schritt aus der Bar die letzte Erinnerung an die vergangene Nacht war.

Fragmentarische Blackouts sind tückisch

Bei den fragmentarischen Blackouts sind Erinnerungen noch da, aber sie sind lückenhaft. Solche Blackouts treten häufiger auf – doch sie sind ebenfalls tückisch. Goodwin stellte fest, dass bei dieser Art des Blackouts den Betroffenen oft gar nicht bewusst ist, dass sie Dinge vergessen haben. Erst wenn andere sie auf etwas hinweisen, was geschehen ist, kommen die Erinnerungen zum Teil zurück.
In einer weiteren Studie ein Jahr später führte Goodwin Gedächtnistests mit seinen betrunkenen Probanden durch. Erstaunlicherweise hatten diejenigen, denen später jede Erinnerung an die Tests fehlte, während der Untersuchung ein recht gutes Gedächtnis – jedoch jeweils nur für die ersten zwei Minuten nach dem Test.
Andere Studien bestätigten diesen Effekt. Betrunkene Versuchspersonen konnten den Anweisungen folgen und sich unterhalten, wussten jedoch schon fünf Minuten später nicht mehr, was sie eigentlich gesagt oder getan hatten.
Während das Kurzzeitgedächtnis im Rausch also gut zu funktionieren scheint, ist das Langzeitgedächtnis stark beeinträchtigt. Allerdings verschwinden nur neu hinzukommende Ereignisse – Erinnerungen vor dem Rausch blieben weiterhin abrufbar.
Wissenschaftler vermuteten deshalb bereits seit einigen Jahren, dass die Übertragung neür Informationen aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis durch Alkohol gestört wird.

Alkohol schlägt auf die Zellrezeptoren

Wie genau das aber geschieht, war lange unklar. Zunächst glaubte man, dass Alkohol einfach nach und nach die Aktivität der Zellen lahmlegt, mit denen er in Kontakt kommt. Später richtete sich die Aufmerksamkeit mehr auf die gestörte Kommunikation der Nervenzellen. Inzwischen weiß man, dass Alkohol die Aktivität einiger Zellrezeptoren verändert.
An diesen binden normalerweise wichtige Botenstoffe. Nur so können Informationen von einer Zelle an die nächste weitergegeben werden. Stimmt etwas nicht mit dem Zellrezeptor, dann ist auch die Informationsübertragung der Zellen gestört.
Eine jüngst erschienene Studie um den Psychiater Kazuhiro Tokuda von der Washington University konnte zeigen, dass durch die Blockade der Rezeptoren vor allem die sogenannte Langzeitpotenzierung verhindert wird – ein Prozess, der die Verbindungen zwischen den Nervenzellen stärkt und eine wichtige Voraussetzung für Lernen und Gedächtnisbildung ist.
Wenn das im Hippocampus, dem Gedächtniszentrum des Gehirns, geschieht, können neu eintreffende Informationen nicht richtig gefestigt werden. Denn die Zellen kommunizieren langfristig nicht mehr effektiv miteinander.
Nervenzellen, die auf Alkohol derart reagieren, finden sich jedoch auch noch an anderen Stellen – nicht nur im Gedächtniszentrum. Auch im Frontalhirn, wo Entscheidungsfähigkeit und die Kontrolle über die Impulse geregelt wird, verändert Alkohol die Rezeptoren der Zellen und beeinflusst so ihre Funktion.
Das erklärt, warum Betrunkene, obwohl sie noch handlungsfähig sind, spontane und kurzsichtige Entscheidungen treffen. Und das kann gefährlich werden. Eine im Juni erschienene Studie des Teams um Marlon Mundt von der University of Wisconsin zeigte, dass häufigere Blackouts die Wahrscheinlichkeit, sich unter Alkoholeinfluss zu verletzen, drastisch erhöhen.
Die Wissenschaftler verfolgten das Trinkverhalten von mehr als 900 US-Studenten über zwei Jahre. Mehr als die Hälfte von ihnen hatte im Jahr vor der Befragung mindestens ein Blackout erlebt – Männer gleichermaßen wie Fraün.
Je mehr Blackouts zusammenkamen, desto größer war das Risiko, sich im Rausch zu verletzen. Bereits zwei Blackouts erhöhten das Risiko um gut 60 Prozent, und mit sechs oder mehr Blackouts erhöhte sich das Risiko sogar auf das Dreifache.
Wer nun denkt, ohne Blackout sei man sicher, hat sich jedoch getäuscht. Denn Alkohol beeinträchtigt die Gedächtnisleistung auch schon viel früher. Bereits nach einem oder zwei Drinks können kleine Gedächtnislücken auftreten. Je mehr getrunken wird, desto bruchstückhafter werden die Erinnerungen. Bei einem Blutalkohol unter 1,5 Promille ist der Transfer von Informationen in das Langzeitgedächtnis noch moderat.
Dennoch kann es passieren, dass man auf einer Party plötzlich nicht mehr weiß, was man gerade mit jemandem besprochen hat oder wo im Gespräch man unterbrochen wurde. Studien konnten für diesen Alkohol-Level im Labor auch verzögertes Lernen von neün Wörtern oder neün Gesichtern nachweisen.

Große Wahrscheinlichkeit für einen Blackout ab 1,5 Promille

Ab einem Blutalkohol über 1,5 Promille wird die Wahrscheinlichkeit eines Blackouts groß. Doch genau vorhersagen lässt es sich nicht. Denn neben der Menge an Alkohol, die getrunken wird, zählen auch andere Faktoren.
Wer viel und Hochprozentiges innerhalb kürzester Zeit trinkt, und das auf leeren Magen, dem ist ein Filmriss fast sicher. Außerdem trifft er Frauen häufig eher als Männer, weil ihr Körper Alkohol aufgrund der Unterschiede im Körpergewicht und des Körperfetts anders verarbeitet.
Doch es gibt auch Menschen, die grundsätzlich anfälliger für Blackouts sind als andere. Eine Studie um Elliott Nelson von der Washington University School of Medicine aus dem Jahr 2004 beschäftigte sich mit der genetischen Veranlagung für Blackouts.
Die Untersuchung an mehr als 2300 Zwillingen ergab, dass die Wahrscheinlichkeit für ein Blackout zu etwas mehr als 50 Prozent genetisch mitbestimmt wird. Eine andere Untersuchung, die über 21 Jahre die Trinkgewohnheiten schwangerer Fraün und später die ihrer Kinder analysierte, kam außerdem zu dem Ergebnis, dass Kontakt mit Alkohol im Mutterleib zu einer erhöhten Anfälligkeit des Kindes für Blackouts führte.
Trotz der unterschiedlichen Anfälligkeit für das Blackout haben viele Menschen es schon mindestens einmal in ihrem Leben erlebt. Elvin Morton Jellinek, der die erste Studie zum Gedächtnisausfall durchgeführt hatte, glaubte damals noch, das Blackout sei ein Indikator für Alkoholabhängigkeit.
Und auch noch lange nach ihm war unbekannt, wie viele Menschen eigentlich schon einmal ein Blackout erlebt haben. Ab den 80er-Jahren schließlich folgte eine Untersuchung der nächsten. In allen Studien mit teils mehr als 2000 Teilnehmern lag die Rate derjenigen, die bereits einmal ein Blackout erlebt hatten, bei rund 35 Prozent.
Eine Studie jedoch berichtet von 51 Prozent – untersucht worden waren 770 Studenten in ihren ersten zwei Studienjahren. Ob der hohe Prozentsatz nun spezifisch für die Trinkgewohnheiten von Studenten ist oder ob es an der Art der Fragestellung lag, werden weitere Studien zeigen müssen.
Klar ist jedoch, dass bisher niemand genau vorhersagen kann, wann eine durchzechte Nacht mit einem Blackout endet und wie groß die Gedächtnislücken sein werden. Steve Güldenpfennig weiß bis heute nicht, was genau auf seinem Nachhauseweg von der Bar geschehen ist. Auch seinen unbekannten Helfer hat er nicht ausfindig machen können. Dankbar ist er ihm aber heute noch.


http://www.welt.de/gesundheit/article13698061/Forscher-entschlüsseln-Geheimnis-des-Blackouts.html
 
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